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Eines der bedeutendsten Volksepen im Saïdi Dialekt Oberägyptens berichtet über den Stamm Banī Hilāl. Aus einigen anderen Motiven lassen sich Spuren der homerischen Epen erschließen. Alexander der Große drang bis nach Luxor/Theben vor und die dreihundertjährige Herrschaft der Ptolemäer vor allem in Unter- und Mittelägypten hat viele Spuren in Literatur und Kunst hinterlassen. Nicht zuletzt sind die Fayyūm-Porträts ein offenbares Zeugnis davon.
Im Banī Hilāl Epos kommt es bei vielen Stammeskriegen vor, dass jede Partei ihren tapfersten Krieger aussucht, um sie im Kampf zu vertreten und damit zu vermeiden, dass viele Stammesmitglieder getötet werden. In einer Episode kommt es zu einem Zweikampf zwischen Rizq, dem Krieger von Banī Hilāl und Abū Zaid, seinem Sohn, der nun für einen Stamm kämpft, der seine vertriebene Mutter Khadra und ihn noch als Säugling aufgenommen hatte, sie vor Tod und Versklavung rettete, standesgemäß in seinem Schutz leben und Abū Zaid ebenbürtig mit den Stammeskindern aufwachsen ließ.
Vater und Sohn, über viele Jahre getrennt, treten sich als Fremde gegenüber, wie in der Tradition des homerischen Stoffes Laïos und sein Sohn Ödipus. Der Zweikampf dauert mehrere Tage, ohne dass der Kampf durch den Sieg eines der Kämpfer entschieden wird. In den Nachtpausen ziehen sich die Kämpfer in ihre Lager zurück. Rizq kehrt zu seiner zwanzigjährigen erstgeborenen Tochter, die mit ihm freiwillig in die Wüste gezogen ist, nachdem sein Stamm Banī Hilāl seine Frau Khadra wegen Abū Zaids dunkler Hautfarbe des Ehebruchs bezichtigte, und Rizq unter dem Druck der Stammesehre zuließ, dass sie und sein neugeborener Sohn Abū Zaid vertrieben wurden. Auch Abū Zaid kehrt nach dem Tageskampf zu seiner Mutter Khadra zurück, die den Zweikampf beobachtet hat und die Gefahr erkennt, dennoch aus Furcht vor Abū Zaids Wut gegen seinen Vater schweigt, wenn er die Wahrheit erfährt.
Ihren Angehörigen vertrauen beide Krieger ihre Verwirrung an: Beide äußern sie ihr Unbehagen darüber, dass sie die Tapferkeit ihres Gegners bewundern, dass sie Lähmung verspüren, wenn sie treffsicher zuschlagen wollen, dass sie eine rätselhafte Anziehung zum Gegner empfinden.
Die Auflösung des Geheimnisses wird dadurch herbeigeführt, dass Rizqs Tochter, während sie Abū Zaid beim Zweikampf abzulenken versucht, von ihm entführt und in Begleitung seines Valets in sein Lager geschickt wird. Mutter und Tochter feiern ihr Wiedersehen. Dann schickt die Mutter ihre Tochter heil zum Vater zurück und enthüllt ihrem Sohn das Geheimnis. Der Kampf wird friedlich beendet und die getrennte Familie ist wieder vereint.
Diese Situation wiederholt sich in den folgenden Generationen noch zweimal in diesem symbolisch eine Million Verse starken Epos. Immer wieder verhindert Blutverwandtschaft den unwissentlichen Vater- bzw. Kindermord.
Die Frage stellt sich, ob nicht durch das dreifache Vorkommen dieses Motivs in veränderter Form eine insistierende Replik auf die Darstellung des Tabus vom Vatermord im Ödipusstoff gesehen werden kann. Diese Replik stellt Fragen auf: Aus ethischer Sicht: Ist Blutverwandtschaft nur eine soziale Gegebenheit oder ein biologishes Naturgesetz? Aus ästhetischer Sicht: Darf die Kunst etwas darstellen, was gegen ein ethisches Naturgesetz verstößt? Steht dahinter ein Kunstverständnis, nach dem, ähnlich wie in Goethes Das Märchen, die Kunst eine Vorzeigefunktion hat, d.h. in der Kunst vorerlebt wird, was im Leben Handlungsentscheidungen erleichtern soll? Gehen die Autoren der Sīrā demnach davon aus, dass die Kunst nichts darstellen darf, was im Leben gegen ein ethisches Naturgesetz verstoße?
Ich möchte im Hinblick auf die ethische Fragestellung nur daran erinnern, dass selbst in der homerischen Version der zweifache Verstoß gegen das ethische Naturgesetz durch Parrizid und Inzest, auch dort ein Tabu, durch das vorausgehende Orakel als Eingriff des Schicksals weitgehend gedämpft wird!
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